UX-Standard in der öffentlichen Verwaltung: Ein Staat, ein Design

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Im Kooperationsprojekt KERN wollen Hamburg und Schleswig-Holstein einen bundesweiten UX Standard für die deutsche Verwaltung auf den Weg bringen. Bürger*innen und Unternehmen sollen digitale staatliche Angebote dadurch besser erkennen sowie leichter und schneller nutzen können. Im Projekt entsteht ein Design-System auf Open Source Basis, das Bund, Ländern und Kommunen zur Verfügung gestellt wird. Der IT-Dienstleister Dataport setzt das Vorhaben für seine Trägerländer um. Im Interview sprechen Projektleiter Robin Pfaff, Staatskanzlei Schleswig-Holstein, und Isabell Pietta, Consultant Digitale Transformation bei Dataport, über die Relevanz von Nutzendenzentrierung in digitalen Lösungen, die Besonderheit der KERN Community und die wichtigsten Meilensteine in diesem Jahr.

Mit dem Projekt KERN soll der digitale Staat eine wiedererkennbare Marke werden. Warum braucht die deutsche Verwaltung einen bundesweiten UX-Standard?

Robin Pfaff: Wenn man sich in die Bürgerinnen und Bürger hineinversetzt und mit dem digitalen Staat zu tun hat, sieht man eine starke Fragmentierung der Nutzeroberflächen. Die digitalen Angebote des Staates wie Behördenwebseiten, Service-Portale oder Online-Dienste sind geprägt von Design-Brüchen, Barrieren, unterschiedlichen Domainstrukturen und einer nicht sehr intuitiven Bedienung. Hier setzt die digitale Dachmarke an, die ein übergeordnetes Kennzeichnungssystem für staatliche Angebote im Internet schafft. Mit KERN – einer von vier Säulen der Dachmarke – entsteht ein einheitlicher Design-Standard für digitale Verwaltungsleistungen. Sie sollen einfach zu benutzen, intuitiv bedienbar und barrierefrei sein. 

 

Einer Studie zufolge würde jede*r zweite Bürger*in dem Staat mehr vertrauen, wenn man dessen Leistungen einfach und schnell digital nutzen könnte. 

Robin Pfaff: Der digitale Raum ist eines der wichtigsten Handlungsfelder, um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger und der Unternehmen in den Staat zu stärken. Immer mehr Interaktionen mit dem Staat finden digital statt – vom Antrag über die Auskunft bis zur Abwicklung ganzer Verwaltungsprozesse. Deshalb ist es entscheidend, dass der Staat hier als funktional, verlässlich und zugänglich erlebt wird. 

Isabell Pietta: KERN trägt dazu bei, dass Bürger*innen und Unternehmen einfache und gut nutzbare Dienste vorfinden. Dass sie es nicht jedes Mal mit anderen Oberflächen zu tun haben. Und auf einen Blick erkennbar ist, dass ein offizieller Absender dahintersteht und der Inhalt vertrauenswürdig ist. Wenn man es dadurch schafft, dass Online-Dienste gerne oder sogar präferiert zu analogen Anträgen genutzt werden, kommt das der Verwaltung zugute. 

 

Woraus besteht KERN?

Robin Pfaff: KERN stellt ein offenes, modular aufgebautes Design-System bereit – mit wiederverwendbaren UI-Komponenten, definierten visuellen Gestaltungselementen wie Farben, Schriften und Abständen sowie Templates und Anwendungsbeispielen für digitale Verwaltungsangebote. Ganz konkret adressiert KERN Designer*innen und Entwickler*innen, aber auch Projekt- und Produktverantwortliche, die strategische Entscheidungen treffen, zum Beispiel, wie man das Thema User Experience in ein Projekt einbindet, wie man es in der Vergabe verankern kann. Diese Gruppen und Personen sind diejenigen, die KERN nutzen und bilden die Community, mit der wir den Standard gemeinsam entwickeln und Anforderungen definieren. Wir unterstützen unsere Community mit verschiedenen Angeboten, zum Beispiel einem Onboarding und einer regelmäßigen Online-Sprechstunde.

“Durch fertige Design-Elemente spart man viel Zeit in der Entwicklung.”

Der KERN UX Standard wird also gemeinschaftlich entwickelt. Welchen Vorteil hat die Community durch ihre Beteiligung im Projekt?

Robin Pfaff: Ein guter Standard ist sehr nützlich für die, die ihn anwenden, weil sie nicht immer wieder von vorn anfangen müssen. Dadurch, dass man auf fertige Elemente zurückgreifen kann, spart man viel Zeit in der Entwicklung. Durch die aktive Beteiligung der Community ist das Design-System optimal auf die Bedürfnisse der Nutzenden zugeschnitten. Ein großes Interesse an KERN haben IT-Unternehmen, die für die Verwaltung Lösungen entwickeln. Diese sollen anschlussfähig und gut nutzbar sein und eine hohe Qualität haben, an unterschiedlichen Stellen eingebettet werden und verschiedenen Verwaltungen angeboten werden können. Diese Unternehmen haben ein intrinsisches Interesse daran, nicht selber ein Design-System aufzubauen und zu pflegen, weil das mit hohem Ressourceneinsatz verbunden ist.

 

Im europäischen Vergleich hinkt Deutschland hinterher, was die Nutzerfreundlichkeit von digitalen Verwaltungsdienstleistungen angeht. 

Isabell Pietta: Aufgrund der föderalistischen Struktur in Deutschland ist es nicht leicht, einen Standard zu etablieren. Man braucht die entsprechenden Kompetenzen in der Verwaltung und das Mindset, um so etwas entstehen zu lassen.

Robin Pfaff: Wir können hier viel von unseren Nachbarländern lernen. Mit GOV.UK wurde bereits 2018 in Großbritannien ein offenes Design-System für Behörden eingeführt, das ebenfalls communityzentriert entwickelt wurde und sehr erfolgreich ist. Ein großer Anteil der Verwaltungsleistung und der Oberflächen, mit dem sich der britische Staat an die Bürgerinnen und Bürger wendet, basiert auf diesem GOV.UK-Design-System. Das hat zur Folge, dass der Staat in Großbritannien eher als konsistent wahrgenommen wird. Auch Singapur ist ein positives Beispiel oder viele unserer europäischen Nachbarn: Italien, Frankreich, Dänemark, Estland haben alle Design-Systeme. 

"Die KERN-Komponenten sind so aufgebaut, dass sie an die jeweilige Markenidentität angepasst werden können."

Kollidiert ein standardisierter Baukasten nicht mit dem Wunsch nach Markenidentität, den viele Verwaltungen haben dürften?

Robin Pfaff: Bund, Länder und insbesondere Kommunen haben ein berechtigtes Interesse daran, ihre eigene gestalterische Identität sichtbar zu machen. Eine starke Marke kann Vertrauen schaffen, insbesondere bei Angeboten mit Bürgernähe, wie touristischen Portalen oder kommunalen Landingpages. Andererseits untergräbt zu viel Individualisierung die Vorteile eines einheitlichen UX-Standards. Deshalb setzt KERN auf ein Theming-Konzept. Die Komponenten des Design-Systems sind technisch so aufgebaut, dass sie innerhalb definierter Grenzen an die jeweilige Markenidentität angepasst werden können. So lässt sich KERN sowohl im Sinne der Dachmarke einsetzen als auch flexibel gestalten, wo es erforderlich ist. Für funktionale Online-Dienste steht die einheitliche Nutzerführung im Vordergrund. 

 

KERN und die digitale Dachmarke sind freiwillige Angebote, das heißt niemand ist verpflichtet, sie einzusetzen. Wie will man erreichen, dass KERN flächendeckend genutzt wird?

Isabell Pietta: Die digitale Dachmarke hat in der Pilotphase schon sehr viele Anfragen generiert. Das zeigt, das nicht immer alles gesetzlich vorgeschrieben werden muss, sondern dass sich qualitativ gute Ansätze selbstständig implementieren, weil verstanden wird, dass es sinnvoll ist. Es passiert jetzt auch immer mehr, dass KERN in öffentlichen Ausschreibungen ganz konkret als Anforderung genannt wird. Und wir sind im Austausch mit verschiedenen Institutionen und Organisationen, die uns dabei unterstützen, unser Vorhaben bundesweit voranzutreiben.

 

Gibt es schon Beispiele zur Anwendung vom KERN Design-System in der Praxis?

Isabell Pietta: Unsere ersten Anwendungsfälle sind BAföG und der Digitalservice, die KERN nutzen und damit jeweils Mitte und Ende 2025 online gehen. Auch das Serviceportal Gemeinsam-Online hat Elemente der Digitalen Dachmarke und KERN bereits integriert. Unser großes Ziel für dieses Jahr ist, KERN in die Anwendung zu bringen und diese auch zeigen. 

Robin Pfaff: Wir arbeiten zudem an der Integration in größere Frameworks und Bestandssysteme wie die Lowcode-Plattform AFM von cit intelliform. Dort wird KERN gerade voll integriert und dann auf einen Schlag in hunderten Online-Diensten sichtbar werden.

 

Was steht bei KERN in diesem Jahr auf der Agenda? Welche Meilensteine wollt Ihr erreichen?

Robin Pfaff: Nach dem Projektauftrag Anfang 2023 haben wir bereits in 2024 ein Minimum Viable Product herausgebracht. Anfang Juli 2025 kommt mit KERN 2.0 unser nächstes großes Release. Diese zweite Version enthält viele Verbesserungen, zum Beispiel werden doppelt so viele Komponenten zur Verfügung stehen.

Isabell Pietta: Außerdem wird es 2025 darum gehen, die Langfristigkeit von KERN zu sichern. Bis Ende 2025 wird KERN von Hamburg und Schleswig-Holstein finanziert. Der Plan ist, dass KERN in einen langfristigen Betrieb übergeht. Hier sind wir in intensiven Gesprächen mit der FITKO und bereiten die Übergabe von KERN vor. Aktuell liegt der Fokus auf Online-Diensten und Service-Portalen. Die nächste Ausbaustufe wird dann sein, weitere relevante Anwendungsfälle zusammen mit der Community zu priorisieren. Die Community bestimmt mit, ob wir uns im nächsten Schritt Komponenten für KI- oder Geo-Oberflächen oder auch Fachverfahren widmen. Mit einem offenen Backlog und vielfältigen Mitwirkungsoptionen. 

 

Erfahren Sie mehr über das Projekt KERN UX-Standard

 

Die Vorteile von KERN

  • Effizienz und reduzierte Kosten
  • Hohe Qualität
  • Vertrauen in digitale staatliche Angebote
  • Erleichterte Nachnutzung
  • Antwort auf Fachkräftemangel